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Normenkontrolle gegenüber Geschäftsordnung

BVerwG, Beschluss vom 15.09.1987 - Az.: 7 N 1.87

Leitsätze:

Geschäftsordnungsmäßige Bestimmungen, die die Rechte von Mitgliedern kommunaler Vertretungsorgane in abstrakt-genereller Weise regeln, unterliegen auf Antrag eines Mitglieds der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle nach § 47 VwGO. (Leitsatz des Herausgebers)

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Volltext

Tatbestand

Der Antragsteller ist Mitglied des Kreistags des Landkreises Cochem-Zell und hat dort das einzige auf die Partei "Die Grünen" entfallene Mandat inne. Er erstrebt seine Anerkennung als Fraktion. Diese wurde ihm unter Hinweis darauf verweigert, dass nach der geltenden, vom Minister des Innern im Ministerialblatt als Mustergeschäftsordnung bekanntgemachten Geschäftsordnung des Kreistags eine Fraktion mindestens aus zwei Mitgliedern bestehen müsse. Gegen diese Regelung wendet sich der Antragsteller mit seinem Normenkontrollantrag. Das Oberverwaltungsgericht hat die Rechtssache dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung der Frage vorgelegt,

ob die Vorschrift des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO so auszulegen ist, dass der dort enthaltene Begriff der anderen im Range unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschrift auch eine Bestimmung über die Fraktionsmindeststärke in der Geschäftsordnung eines rheinland-pfälzischen Kreistages umfasst.

Das Oberverwaltungsgericht möchte die Vorlagefrage bejahen und führt dazu aus: Bei der angegriffenen Bestimmung handele es sich um eine Rechtsvorschrift im Sinne von § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO, weil sie die Rechtsstellung der Kreistagsmitglieder in einem materiellen Sinne regele. Das Recht, Fraktionen zu bilden, sei für das Mitgliedschaftsrecht in der Vertretungskörperschaft bedeutsam. Dass der Kreistag sich seine Geschäftsordnung nicht selbst gegeben habe, hindere die Beurteilung der fraglichen Bestimmung als Rechtsvorschrift nicht; denn unter den in der Landkreisordnung näher bestimmten Voraussetzungen gelte die vom Minister des Innern bekanntgemachte Mustergeschäftsordnung so, als habe der Kreistag sie beschlossen.

Gründe

Die Vorlage ist nach § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO zulässig. Sie betrifft den Inhalt des § 47 VwGO selbst und damit die Auslegung revisiblen Rechts (BVerwGE 56, 172 [174]). Der Senat stimmt dem Oberverwaltungsgericht darin zu, dass die Rechtssache wegen der durch sie aufgeworfenen, bislang höchstrichterlich nicht geklärten Frage nach der Zulässigkeit von Normenkontrollanträgen gegen Bestimmungen in der Geschäftsordnung eines kommunalen Vertretungsorgans grundsätzliche Bedeutung hat (§ 47 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 VwGO). Die Vorlagefrage ist auch entscheidungserheblich. Ihre Beantwortung ist zur Durchführung des Normenkontrollverfahrens erforderlich (BVerwGE 59, 87 [94]; 65, 131 [132 f.]); denn das Oberverwaltungsgericht kann nur dann über die Gültigkeit der angegriffenen Geschäftsordnungsbestimmung entscheiden, wenn diese eine Rechtsvorschrift im Sinne von § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO ist.

Die Vorlagefrage ist in Übereinstimmung mit dem Oberverwaltungsgericht dahin zu beantworten, dass eine Bestimmung nach Art der hier streitigen Bestimmung über die Fraktionsmindeststärke in der Geschäftsordnung des Kreistags des Landkreises Cochem-Zell auf Antrag eines Kreistagsmitglieds als "andere im Range unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschrift" im Sinne von § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle unterliegt.

Der Begriff der "Rechtsvorschrift" in § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO ist - abgesehen von der hier nicht erörterungsbedürftigen Frage nach dem Rang der Vorschrift - gesetzlich nicht näher erläutert. Im allgemeinen werden dazu Rechtsverordnungen, Satzungen und rechtsetzende Vereinbarungen, teilweise auch gewohnheitsrechtliche Normen gerechnet (vgl. etwa OVG Lüneburg, Beschlus vom 28.10.1983, NJW 1984, 627; Kopp, VwGO, 7. Auflage 1986, § 47 Rdnr. 12; Eyermann/Fröhler, VwGO, 8. Auflage 1980, § 47 Rdnrn. 13 ff.; Ule, Verwaltungsprozeßrecht, 9. Auflage 1987, § 32 III 2. (S. 162). Die Geschäftsordnung eines kommunalen Vertretungsorgans lässt sich in diese Kategorien nicht ohne weiteres einordnen (vgl. Ossenbühl, Die Quellen des Verwaltungsrechts, in Erichsen/Martens [Hrsg.], Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Auflage 1986, S. 101 f.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Auflage 1986, § 4 Rdnr. 14, § 24 Rdnr. 12 [S. 48 f., 492 f.]). Regelungsgegenstände der Geschäftsordnung sind die innere Organisation des Vertretungsorgans und der Ablauf seiner Meinungs- und Willensbildung. Sie unterscheidet sich mithin von anderen ortsrechtlichen Bestimmungen dadurch, dass sie nicht das Verhältnis zwischen Staat und Bürger, sondern lediglich organinterne Rechtsbeziehungen regelt. Dieser beschränkte Regelungsinhalt der Geschäftsordnung schlägt sich auch in ihrer Entstehungsweise nieder. Insbesondere bedürfen geschäftsordnungsrechtliche Bestimmungen zu ihrer Wirksamkeit nicht der an die Allgemeinheit gerichteten Verkündung, die sonst für die Entstehung förmlich gesetzter Rechtsnormen unerlässlich ist (vgl. zu letzterem BVerfGE 65, 283 [291], BVerwGE 70, 77 [79]). Dementsprechend ist auch die hier streitige Bestimmung über die Fraktionsmindeststärke in der Geschäftsordnung des Kreistags des Landkreises Cochem-Zell nicht in den beim Erlass von Rechtsverordnungen und Satzungen des Kreises benutzten Publikationsorganen veröffentlicht worden.

Gleichwohl nimmt das Oberverwaltungsgericht zu Recht an, dass diese Bestimmung auf Antrag des Antragstellers im Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO auf ihre Gültigkeit überprüft werden kann. Denn sie regelt in abstrakt-genereller Weise das Recht der Mitglieder des Kreistags, sich zu einer Fraktion zusammenzuschließen. Es handelt sich mithin, ebenso wie bei einer abstrakt-generellen Regelung der Rechte des Bürgers durch Rechtsverordnung oder Satzung um einen Rechtssatz im materiellen Sinne. Dass dieser Rechtssatz - insoweit an eine allgemeine innerdienstliche Weisung (Verwaltungsvorschrift) erinnernd - nach seinem Regelungsinhalt ausschließlich den gemeindlichen Innenbereich betrifft, steht seiner Anerkennung als Rechtsvorschrift im Sinne von § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO nicht entgegen. Allerdings wird Verwaltungsvorschriften üblicherweise gerade mit der Begründung die Eigenschaft einer "Rechtsvorschrift" abgesprochen, sie seien lediglich an weisungsunterworfene Bedienstete oder nachgeordnete Behörden gerichtet und entbehrten daher der für eine Rechtsvorschrift charakteristischen Außenwirkung (vgl. BVerwGE 75, 109 [117, 118]; Kopp, a.a.O., § 47 Rdnr. 15; Eyermann/Fröhler, a.a.O., § 47 Rdnr. 13). Ob an dieser herkömmlichem Begriffsverständnis entsprechenden Unterscheidung zwischen (außenwirksamen) Rechts- und (innenwirksamen) Verwaltungsvorschriften festzuhalten ist (verneinend jüngst Beckmann, DVBl 1987, 611 ff.), kann dahinstehen. Denn nach dem Sinn und Zweck des Normenkontrollverfahrens müssen jedenfalls Bestimmungen, die die Rechte von Mitgliedern kommunaler Vertretungsorgane in abstrakt-genereller Weise regeln, trotz ihres Charakters als bloße Innenrechtssätze in den Anwendungsbereich des § 47 VwGO einbezogen und auf Antrag eines Mitglieds vom Gericht auf ihre Gültigkeit überprüft werden:

Das Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO verbindet Elemente eines objektiven Beanstandungsverfahrens mit solchen der Gewährung individuellen Rechtsschutzes (BVerwGE 68, 12 [14]). Es dient der Rechtsklarheit und der ökonomischen Gestaltung des Prozessrechts, indem es zahlreichen Einzelprozessen vorbeugt. Durch die Möglichkeit einer allgemeinverbindlichen gerichtlichen Entscheidung über die Gültigkeit einer im Range unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschrift verbessert und beschleunigt es den Rechtsschutz des Bürgers, da der Betroffene nicht gezwungen ist, eine Entscheidung über die Gültigkeit der Rechtsnorm inzidenter in einem Klageverfahren gegen eine auf die Norm gestützte konkrete Verwaltungsentscheidung herbeizuführen; zugleich werden dadurch die Verwaltungsgerichte entlastet (BVerwGE 56, 172 [178]).

Dem Ziel des § 47 VwGO, den individuellen Rechtsschutz zu verbessern und die Verwaltungsgerichte zu entlasten, muss auch dann Rechnung getragen werden, wenn es nicht um die subjektiv-öffentlichen Rechte des Bürgers gegenüber dem Staat, sondern um die innerorganisatorische Rechtsstellung der Mitglieder eines kommunalen Vertretungsorgans geht. Dass solche Organrechte trotz ihrer Zugehörigkeit zum Innenrechtskreis ebenso wie die subjektiv-öffentlichen Rechte des Bürgers im Klagewege durchgesetzt werden können, ist in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte anerkannt (vgl. Senatsbeschluss vom 07.03.1980 - BVerwG 7 B 58.79 - [Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 179]; Senatsbeschluss vom 9.10.1984 - BVerwG 7 B 187.84 - [NVwZ 1985, 112]). Daher kann sich auch bei der Verfolgung dieser Rechte das Bedürfnis nach den Rechtssatz selbst zum Verfahrensgegenstand erhebender Normenkontrolle ergeben. Dies zwingt zu der Schlussfolgerung, dass die Mitglieder kommunaler Vertretungsorgane Bestimmungen in der Geschäftsordnung, die - wie eine Bestimmung über die Fraktionsmindeststärke - ihre Rechtsstellung in abstrakt-genereller Weise regeln, im Verfahren nach § 47 VwGO als "andere im Range unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschriften" auf ihre Gültigkeit überprüfen lassen können. Soweit das vorlegende Oberverwaltungsgericht der Ansicht des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg entgegentritt, dass nur solche Hoheitsakte mit förmlichem Normcharakter der Normenkontrolle unterliegen, die als Rechtssätze in Kraft gesetzt worden sind und als solche, wie z.B. Verordnungen, Satzungen und rechtssetzende Vereinbarungen, in der Rechtsordnung anerkannt werden (Beschluss vom 28.10.1983, a.a.O.), ist Anlass zu einer Klarstellung gegeben; die Frage, ob ein gerichtlicher Geschäftsverteilungsplan im Verfahren nach § 47 VwGO überprüfbar ist, die das Oberverwaltungsgericht mit dieser Begründung verneint hat, wird durch die vorstehenden Ausführungen des Senats nicht entschieden.

Die hier streitige Bestimmung über die Fraktionsmindeststärke in der Geschäftsordnung des Kreistags des Landkreises Cochem-Zell erfüllt auch im übrigen die Anforderungen, die an eine Rechtsvorschrift im Sinne von § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO zu stellen sind. Insbesondere ist sie mit dem eine Rechtsvorschrift kennzeichnenden Verbindlichkeitsanspruch zustande gekommen. Nach § 30 Abs. 1 und 2 der Landkreisordnung für Rheinland-Pfalz vom 14.12.1973 (GVBl S. 451) beschließt der Kreistag nach jeder Wahl eine Geschäftsordnung; kommt innerhalb eines halben Jahres nach der Wahl ein Beschluss nicht zustande, so gilt eine Mustergeschäftsordnung, die der Minister des Innern bekanntmacht (§ 30 Abs. 2 Satz 3). Im vorliegenden Fall liegt eine vom Kreistag beschlossene Geschäftsordnung nicht vor, so dass nach § 30 Abs. 2 Satz 3 der Landkreisordnung die Mustergeschäftsordnung des Innenministers gilt. Diese Mustergeschäftsordnung ist, wie das Oberverwaltungsgericht in Auslegung und Anwendung irrevisiblen Landesrechts entschieden hat, unter den Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 Satz 3 der Landkreisordnung für die Mitglieder des Kreistags ebenso verbindlich wie eine vom Kreistag selbst beschlossene Geschäftsordnung.