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Eingemeindung von Umlandgemeinden durch Gesetz

ThürVerfGH, Urteil vom 18.12.1996 - Az.: VerfGH 2/95

Leitsätze:

1. Aus der Verfassungsgarantie der kommunalen Selbstverwaltung folgt, daß Bestands- und Gebietsänderungen von Gemeinden nur aus Gründen des öffentlichen Wohls und nur nach Anhörung der betroffenen Gebietskörperschaften zulässig sind. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG enthält für die Gemeinden eine (relativierte) beschränkt-individuelle Rechtssubjektsgarantie. (amtlicher Leitsatz)

2. Die verfassungsgerichtliche Überprüfung kommunaler Neugliederungsmaßnahmen des Gesetzgebers muß einerseits dessen Befugnisse wahren, andererseits deren Begrenzung gegenüber den betroffenen Selbstverwaltungskörperschaften durch die Verfassung wirksam zur Geltung bringen. Soweit die kommunale Selbstverwaltungsgarantie der einzelnen Selbstverwaltungskörperschaft (Bestands-)Schutz bietet, reicht grundsätzlich auch die verfassungsgerichtliche Kontrollbefugnis, die jedoch nicht in den Bereich gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit eingreifen darf. (amtlicher Leitsatz)

3. Bei umfassenderen Gemeindegebietsreformen lassen sich drei Stufen der gesetzgeberischen Entscheidung unterscheiden. Auf jeder dieser Stufen erfolgt eine Gemeinwohlkonkretisierung durch den Gesetzgeber, der jeweils eine adäquate verfassungsgerichtliche Überprüfung zuzuordnen ist. Die erste Stufe umfaßt den Entschluß, überhaupt eine grundlegende Umgestaltung der kommunalen Ebene vorzunehmen. Auf der zweiten Stufe werden die Leitbilder und Leitlinien der Neuordnung festgelegt, die die künftige Struktur der Selbstverwaltungskörperschaften bestimmen und die Umgestaltung in jedem Einzelfall dirigieren sollen. Auf der dritten Stufe erfolgt die Umsetzung der allgemeinen Leitbilder und Leitlinien im konkreten einzelnen Neugliederungsfall. (amtlicher Leitsatz)

4. Unter den in den neuen Bundesländern seit 1990 bestehenden veränderten Lebens- und Wirtschaftsbedingungen wandelt sich die Siedlungstätigkeit im Umland der städtischen Zentren. Auch in Thüringen haben Entwicklungen im Sinne einer Stadt-Umland-Problematik eingesetzt. Diesen Entwicklungen im Hinblick auf den Gebietszuschnitt der kreisfreien Städte gerecht zu werden, ist eine legitime Zielsetzung des Thüringer Neugliederungsgesetzes. (amtlicher Leitsatz)

5. Bei der Bestimmung der abstrakt-generellen Leitlinien einer gesetzlichen Gebietsreform kommt dem Gesetzgeber ein weiterer Spielraum zu. Er hat die politische Gestaltungsaufgabe, die Maßstäbe für eine kommunale Neugliederung festzulegen. Die verfassungsgerichtliche Überprüfbarkeit ist in diesem Bereich deutlich eingeschränkt. (amtlicher Leitsatz)

6. Die Eingemeindung von Umlandgemeinden ist grundsätzlich ein mit der Verfassungsgewährleistung kommunaler Selbstverwaltung zu vereinbarendes Mittel, um die Leistungskraft einer Stadt zu stärken und einen Stadt-Umland-Bereich sinnvoll neu zu ordnen. (amtlicher Leitsatz)

Aus der Perspektive der allgemeinen Ziele einer kommunalen Gebietsreform ist das Mittel der Eingemeindung gegenüber denkbaren anderen institutionellen Lösungsansätzen einer Stadt-Umland-Problematik regelmäßig nicht subsidiär. (amtlicher Leitsatz)

7. Auf der dritten Stufe seiner Entscheidung, in Bestand oder Gebiet einer Gemeinde einzugreifen, unterliegt der Gesetzgeber einer intensiveren verfassungsgerichtlichen Kontrolle als auf den beiden vorangegangenen Stufen. Dies ergibt sich aus dem planerischen Einschlag der gesetzgeberischen Entscheidung, bei der die Abwägung der für oder gegen eine Neugliederungsmaßnahme streitenden Belange im wesentlichen durch die vom Gesetzgeber entwickelten Leitlinien und Leitbilder gesteuert wird. Deren Konkretisierung erfordert, die spezifischen örtlichen Gegebenheiten in den Blick zu nehmen. (amtlicher Leitsatz)

8. Der Verfassungsgerichtshof hat insbesondere umfassend nachzuprüfen, ob der Gesetzgeber den entscheidungserheblichen Sachverhalt zutreffend und vollständig ermittelt und dem Neugliederungsgesetz zugrunde gelegt hat. (amtlicher Leitsatz)

9. Der Gesetzgeber hat in jedem einzelnen Neugliederungsfall die verschiedenen Belange einander gegenüberzustellen und zu gewichten. Grundsätzlich ist es allein seine Sache, die Gewichtung der Belange im einzelnen und ihre Bewertung im Hinblick auf das Leitbild der Reform vorzunehmen. Auf dieser Grundlage ist er befugt, sich letztlich für die Bevorzugung eines Belangs oder mehrerer Belange und damit notwendig zugleich für die Zurückstellung anderer betroffener Gesichtspunkte zu entscheiden. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle hat sich in diesem Bereich auf die Prüfung zu beschränken, ob die Gewichtungen mit den Leitbildern und Leitlinien des Gesetzgebers in Einklang stehen. Abwägungsfehlerhaft und vom Verfassungsgerichtshof für nichtig zu erklären ist eine einzelne Neugliederungsmaßnahme insbesondere, wenn der Eingriff in den Bestand einer einzelnen Gemeinde offenbar ungeeignet oder unnötig ist, um die damit verfolgten Ziele zu erreichen, oder wenn er zu ihnen deutlich außer Verhältnis steht. Die Gewichtung und Bewertung der Gemeinwohlaspekte durch den Gesetzgeber darf ihrerseits nicht deutlich außer Verhältnis zu dem ihnen von Verfassungs wegen zukommenden Gewicht stehen. (amtlicher Leitsatz)

10. Das Gleichbehandlungsgebot ist im Rahmen der erforderlichen Ausrichtung von kommunalen Neugliederungsentscheidungen an Gründen des öffentlichen Wohls als verfassungsrechtliche Direktive bedeutsam und auch vom Gesetzgeber gegenüber den betroffenen Selbstverwaltungskörperschaften zu beachten. Nur sachliche, grundsätzlich an Leitbild und Leitlinien der Reform ausgerichtete Erwägungen dürfen den Gesetzgeber dazu bewegen, eine Gemeinde in die Kernstadt einzugliedern. Solche Gründe müssen aus den zuvor angestellten Sachverhaltsermittlungen ableitbar sein. Aus den Sachverhaltsermittlungen muß sich auch die sachliche Rechtfertigung dafür ergeben, weshalb aus einem Kreis vergleichbarer Umlandgemeinden nur einzelne Gemeinden in die Kernstadt eingegliedert werden. (amtlicher Leitsatz)

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