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Aufstellung einer Schöffenvorschlagsliste nach dem Zufallsprinzip

BGH, Urteil vom 30.07.1991 - Az.: 5 StR 250/91

Leitsätze:

1. Der Zweck der Mitwirkung der Gemeindevertretungen bei der Schöffenbestellung besteht darin, durch eine individuelle Vorauswahl für die Heranziehung erfahrener und urteilsfähiger Personen als Schöffinnen und Schöffen zu sorgen. Ein Verfahren zur Aufstellung der Vorschlagsliste, das darin besteht, dass die Gemeindevertretung eine Liste zufällig gezogener Namen ohne weiteres übernimmt, ist daher fehlerhaft. (Leitsatz des Herausgebers)

2. Ein solcher Fehler bei der Aufstellung der Schöffenvorschlagsliste macht die darauf beruhende Schöffenwahl nicht ohne weiteres unwirksam. (Leitsatz des Herausgebers)

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Volltext

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zu der Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Seine Revision hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.

I. Das von der Revision in der Hauptverhandlung vor dem Senat geltend gemachte Verfahrenshindernis besteht nicht. Die Anklage umgrenzt die dem Angeklagten vorgeworfene Tat hinreichend. Maßgebend ist die Beschreibung des Opfers, des Tatorts und der Begehungsweise. Daß die Tatzeit nur grob umrissen wurde ("Dezember 1985 oder Januar 1986"), schadet nicht.

II. 1. Mit der Rüge, die Strafkammer sei mit der Schöffin ... nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen (§ 338 Nr. 1 StPO), vermag die Revision allerdings nicht durchzudringen. Sie beanstandet - im Ergebnis ohne Erfolg - das Verfahren, durch das die Schöffin in die Vorschlagsliste für Schöffen des Bezirks Wedding in Berlin aufgenommen worden ist.

a. Nach dem Vortrag der Revision und den ergänzenden Erkundigungen des Senats verfuhr die Bezirksverordnetenversammlung des Bezirks Wedding in Berlin bei der Aufstellung der Vorschlagsliste, aus der die Schöffin ... gewählt wurde, nach Ausführungsvorschriften des Senats von Berlin vom 1. November 1983 (Amtsblatt Berlin 1983, S. 1524) wie folgt:

Das Landesamt für Elektronische Datenverarbeitung erstellte aus dem Einwohnerregister für den Bezirk Wedding nach dem Zufallsprinzip eine Liste mit 1228 Einwohnern, die - soweit dies aus den Datensätzen ersichtlich war - die Voraussetzungen für das Schöffenamt erfüllten, und leitete diese Liste an das Bezirksamt Wedding weiter.

Nach Anfragen bei den so Ermittelten strich das Bezirksamt unter Mitwirkung von Mitgliedern der Bezirksverordnetenversammlung zunächst die Personen, die nach §§ 32 bis 35 GVG nicht in die Vorschlagsliste aufgenommen werden dürfen oder aufgenommen werden sollen, und sodann nach dem Zufallsprinzip so viele weitere, bis die nach § 36 Abs. 4 Satz 1 GVG erforderliche Zahl von 288 Personen erreicht war. Die so gewonnene Liste wurde dann von der Bezirksverordnetenversammlung insgesamt als Vorschlagsliste mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Zahl ihrer gesetzlichen Mitglieder beschlossen.

b. Die Revision meint, die bloße "Bestätigung" einer vom Landesamt für Elektronische Datenverarbeitung nach dem Zufallsprinzip erstellten Liste genüge nicht den Anforderungen des § 36 GVG für die Aufstellung der Vorschlagsliste für Schöffen.

c. Die Rüge ist zulässig (§ 338 Nr. 1 Buchst. c StPO), im Ergebnis aber nicht begründet.

aa. Bedenken gegen das Verfahren bei der Aufstellung der Vorschlagsliste könnten schon deshalb bestehen, weil die Bezirksverordnetenversammlung Wedding dabei einer AV des Senats von Berlin gefolgt ist, der keine Befugnis hat, das Wahlverfahren zu beeinflussen (BGHSt 30, 255, 256 mit Anm. Katholnigg SV 1982, 7). Daß sich die Bezirksverordnetenversammlung indes an diese AV gebunden fühlte, hat die Revision nicht vorgetragen. Dafür spricht auch wenig, zumal Ziffer 6 der AV Raum für anderweitige Weisungen der Bezirksverordnetenversammlung läßt.

bb. Fehlerhaft ist es jedenfalls, daß die Bezirksverordnetenversammlung eine nach dem Zufallsprinzip erstellte Liste ohne weiteres übernahm.

Das Gesetz enthält keine umfassende Regelung, nach welchen Grundsätzen die gemeindliche Vorschlagsliste aufzustellen ist. Es bestimmt lediglich, wie viele Anwärter in die Liste aufzunehmen sind und welche Angaben zur Person der Benannten zu machen sind (§ 36 Abs. 4 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 GVG). Alle Gruppen der Bevölkerung sollen angemessen berücksichtigt werden (§ 36 Abs. 2 Satz 1 GVG). "Für die Aufnahme" in die Liste bedarf es schließlich der Zustimmung von zwei Dritteln der gesetzlichen Zahl der Mitglieder der Gemeindevertretung (§ 36 Abs. 1 Satz 2 GVG). Den Begriff "Wahl" verwendet das Gesetz, anders als in § 42 GVG, nicht.

In der Rechtsprechung ist die Frage, nach welchen Gesichtspunkten die Gemeindevertretung die Vorschlagsliste aufzustellen hat, noch nicht abschließend geklärt. Der Bundesgerichtshof hat lediglich entschieden, daß es zulässig ist, diese Liste auf Grund von Vorschlägen der in der Gemeindevertretung vertretenen Parteien zusammenzustellen. Werde die Liste in anderer Weise gebildet, "etwa dadurch, daß die Wahlkartei der Gemeinde herangezogen und aus ihr Namen herausgegriffen werden", so trete "an die Stelle des Willens der politischen Parteien entweder der blinde Zufall oder das Ermessen des oder der damit befaßten Beamten" (BGHSt 12, 197, 201).

Der Senat hält ein Verfahren, bei dem die zuständige Gemeindevertretung von einer eigenständigen Entscheidung absieht, für fehlerhaft.

Es mag schon fraglich sein, ob bei einem solchen Verfahren wegen der geringen Zahl vorzuschlagender Personen die von § 36 Abs. 2 GVG verlangte angemessene Berücksichtigung aller Bevölkerungsgruppen ausreichend gewährleistet sein kann.

Die Aufstellung einer durch das Zufallsprinzip bestimmten Vorschlagsliste wird jedenfalls der Aufgabe der Gemeindevertretung bei der Mitwirkung der Schöffenbestellung nicht gerecht. Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung gebieten es, daß die Gemeindevertretung durch eine individuelle Vorauswahl die Gewähr für die Heranziehung erfahrener und urteilsfähiger Personen als Schöffinnen und Schöffen bietet (BGHSt 12, 197, 200; K. Schäfer in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. Rd. 2 zu § 36 GVG; Kissel, Gerichtsverfassungsgesetz 1981, Rd. 2 zu § 36 GVG). Sonst wäre es nicht erforderlich gewesen, diese Aufgabe auf die Gemeindevertretung zu übertragen und für die Aufnahme in die Vorschlagsliste eine qualifizierte Mehrheit vorzuschreiben. Für diese Auslegung spricht auch die Entstehungsgeschichte des Gesetzes. Das Rechtsvereinheitlichungsgesetz vom 12. September 1950 (BGBl. I 455) hat die Urliste aller schöffenfähigen Gemeindeeinwohner, aus deren Kreis der Schöffenwahlausschuß die Schöffen zu wählen hatte, durch die gemeindliche Vorschlagsliste ersetzt, weil so erreicht werden könne, "daß für das Schöffenamt besonders geeignete Bürger an der Rechtsprechung teilnehmen" (Begründung zu dem Entwurf des Rechtsvereinheitlichungsgesetzes 1950 S. 7).

Auf welche Weise die Gemeindevertretung für die Heranziehung geeigneter Schöffen Sorge trägt, läßt sich nicht allgemein bestimmen. Dies kann beispielsweise dadurch erfolgen, daß auf Vorschlagsliste der Fraktionen des Gemeinderats zurückgegriffen wird (wie im Fall BGHSt 12, 197, 200) oder zusätzlich auch Vorschläge von anderen Vereinigungen, wie von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden, Bürgervereinen und Organisationen aus der kirchlichen und sozialen Arbeit, Berücksichtigung finden; auch für Selbstbewerbungen ist Raum. So wird nach den Erkundigungen des Senats in den dem Landgerichtsbezirk Berlin vergleichbar großen Landgerichtsbezirken Hamburg und Stuttgart verfahren.

In ähnlicher Weise empfehlen auch die Bundesländer Bayern, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz die Aufstellung der Vorschlagslisten (vgl. die Gemeinsame Bekanntmachung der Bayerischen Staatsministerien der Justiz und des Inneren v. 14. März 1980 - Bayerisches Justizministerialblatt 1980, S. 63 -; Gem. RdErlaß des Justizministers, des Innenministers und des Ministers für Arbeit, Gesundheit und Soziales v. 11. November 1987 - JMBl. Nordrhein-Westfalen S. 265 -; Verwaltungsvorschrift des Ministeriums der Justiz, des Ministeriums des Innern und für Sport und des Ministers für Soziales und Familie v. 20. Oktober 1989 - JBl. Rheinland-Pfalz S. 220 -).

Der Gefahr, daß die Parteien bei einer solchen individuellen Vorauswahl der Schöffen durch politische Entscheidungsträger ihr Benennungsrecht mißbrauchen und einseitig auf die Zusammenstellung der Schöffenliste Einfluß nehmen, wird durch das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit in § 36 Abs. 1 Satz 2 GVG hinreichend Rechnung getragen (BGHSt 12, 197, 201).

cc. Der aufgezeigte Fehler verhilft der Revision aber nicht zum Erfolg. Der Mangel des Auswahlverfahrens kann die ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts grundsätzlich nicht in Frage stellen und die Revision nach § 338 Nr. 1 StPO nicht begründen, denn er liegt außerhalb des Bereichs, auf den die Gerichte unmittelbar einwirken können (BGHSt 22, 122, 124). Entgegen der Auffassung der Revision ist der vorliegende Fall nicht mit dem der Entscheidung BGHSt 33, 290 zugrundeliegenden Sachverhalt vergleichbar. Dort lag der Fehler bei der Zusammenstellung der Vorschlagslisten mehrerer Gemeinden durch den nach § 39 GVG mit der Vorbereitung der Schöffenwahl beauftragten Richter.

Verfassungsrechtliche Gesichtspunkte gebieten hier keine andere Betrachtung. Zwar gehört § 36 GVG zu den Vorschriften, die den gesetzlichen Richter bestimmen, so daß Willkür bei der Aufstellung der Schöffenvorschlagsliste auch die Schöffenwahl unwirksam machen und möglicherweise die Revision begründen könnte. Willkür liegt hier aber nicht vor. Die Bezirksverordnetenversammlung hat zwar die ihr vom Gesetz zugewiesene Aufgabe verkannt, sie war aber ersichtlich um eine möglichst objektive Zusammensetzung des in die Vorschlagsliste aufgenommenen Personenkreises bemüht. Deshalb war ihr Verfahren nicht so fehlerhaft, daß es als unverständlich, unhaltbar und auf sachfremden Erwägungen beruhend erschiene (vgl. BGHSt 33, 290, 294).

Ob der nach § 39 GVG mit der Vorbereitung der Schöffenwahl beauftragte Richter in Zukunft in Kenntnis dieser Entscheidung Vorschlagslisten, die offensichtlich nach dem Zufallsprinzip zusammengestellt sind, zurückzuweisen und notfalls unter Zuhilfenahme der Aufsichtsbehörde auf eine gesetzmäßige Erstellung der Vorschlagslisten zu drängen hat, braucht hier nicht entschieden zu werden. Dies liegt aber nunmehr angesichts des verfassungskräftigen Grundsatzes, daß niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), nahe.

2. Erfolg hat die Revision aber mit einer Aufklärungsrüge (§§ 337, 244 Abs. 2 StPO).

a. Das Landgericht hat festgestellt, der Angeklagte habe an einem nicht mehr feststellbaren Tag Ende Dezember 1985, jedoch vor dem 30. Dezember 1985, im Anschluß an seinen bis 22:45 Uhr dauernden Spätdienst als Krankenpfleger auf der Station 5 des Krankenhauses die Schwesternschülerin ..., die mit ihm zusammen den Spätdienst versehen habe, nach einem gemeinsamen Gaststättenbesuch vergewaltigt.

b. Diese Feststellungen greift die Revision an. Sie macht geltend, das Landgericht habe bei den Akten (im Hefter "Beistück") befindliche Beweismittel, nämlich die zur Ermittlung von Lohnzuschlägen im Krankenhaus geführten "Stundennachweise für Zeitzuschläge", nicht berücksichtigt. Aus diesen ergebe sich, daß im Dezember 1985 der Angeklagte keinen Spätdienst verrichtet hat. Das vom Landgericht festgestellte Geschehen habe also so nicht stattfinden können.

c. Die Rüge hat Erfolg. Das Gericht hat seine Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) verletzt.

Die von der Revision benannte Urkunde weist aus, daß der Angeklagte im Dezember 1985 an bestimmten Tagen zwischen 6.30 Uhr und 14.30 Uhr und an zwei Tagen von 7.00 Uhr bis 15.00 Uhr gearbeitet hat. Andere Arbeitszeiten oder Spätschichtzuschläge sind darauf nicht vermerkt. Diese Urkunde war nicht Gegenstand der Beweisaufnahme; die Urteilsgründe befassen sich nicht mit ihrem Inhalt.

Das Landgericht stützt seine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten wesentlich auf die Angaben der Geschädigten, die sie anhand des Aussage- und Nachttatverhaltens der Zeugin überprüft und für glaubhaft hält.

Die Zeugin hat zur Vorgeschichte der Tat bekundet, der Angeklagte habe ihr am Tattag während des Spätdienstes den Vorschlag gemacht, nach Dienstschluß mit ihm essen zu gehen. Sie selbst habe an diesem Tag an und für sich Zwischendienst bis 19.00 Uhr gehabt. Da aber die für den Spätdienst eingeteilte Vollschwester, die die Strafkammer nicht mehr ermitteln konnte, sich nicht wohl gefühlt habe, habe die Zeugin sich bereiterklärt, für die Vollschwester den Dienst bis zum Ende des Spätdienstes zu Ende zu führen. Das sei zwar nicht unzulässig gewesen, von der Verwaltung des Krankenhauses aber nicht gerne gesehen worden. Deshalb seien derartige Abweichungen vom Dienstplan nicht immer in Abrechnungen und Dienstplänen vermerkt worden. Um der Nachtschwester nicht zu begegnen, die von dem Wechsel in der Spätschicht nichts erfahren sollte, habe die Zeugin die Station vor dem Ende der Spätschicht verlassen.

Zur Tatzeit selbst konnte die Zeugin nur noch angeben, "es müsse Ende Dezember 1985, Anfang 1986, gewesen sein". Da auf Grund anderer Beweismittel eine Tatzeit nach dem 29. Dezember 1985 ausgeschlossen wurde, stellte die Kammer fest, die Tat müsse Ende Dezember 1985, jedoch vor dem 30. Dezember dieses Jahres begangen worden sein. Die Feststellung des genauen Tattages anhand schriftlicher Unterlagen sei nicht mehr möglich, da die Dienstpläne bis 30. Dezember 1985 bereits vernichtet seien und die Unterlagen im übrigen auch keinen sicheren Nachweis für die tatsächliche Arbeitszeit liefern könnten; Änderungen - etwa durch internen Tausch - seien nicht immer eingetragen oder gemeldet worden, zumal der Einsatz von Schwesternschülerinnen im Spätdienst nicht gern gesehen worden sei.

Bei dieser Sachlage drängte sich die Verwertung der Stundennachweise für die Zahlung von Zeitzuschlägen an den Angeklagten auf. Schon wegen der finanziellen Folgen spricht vieles dafür, daß diese Listen genau geführt wurden. Außerdem spielten die gegen die Beschäftigung von Schwesternschülerinnen im Spätdienst bestehenden Bedenken beim Angeklagten als Krankenpfleger keine Rolle; sie standen also einer korrekten Führung seiner Stundennachweise nicht entgegen.

Auf der unterlassenen Verwertung der Urkunden kann die Verurteilung des Angeklagten beruhen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das Landgericht zu einem anderen, für den Angeklagten günstigeren Urteil gekommen wäre, wenn es festgestellt hätte, daß für die als Tatzeit in Betracht kommenden Tage die Stundennachweise eine Spätschicht des Angeklagten nicht aufzeigen.

III. Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Revision zu verwerfen.